Der einfache Blueprint hinter YouTubes fesselnder UX (und, warum es wichtig ist)

Felix Kasiske • 24.07.2023
Felix Kasiske

Menschen nutzen Videostreaming-Plattformen um Videos zu streamen. Das ist klar. Das bedeutet, dass das Video das Kernprodukt und der Star der Show ist, richtig? Sicher. Aber warum nimmt ein Youtube-Video nur 50 % des Bildschirms ein, wenn man es ansehen will? Warum unterscheidet sich der Ansatz von Youtube derart deutlich von dem von beispielsweise Netflix? Wir zeigen dir, wie Youtube ihr Geschäftsmodell und ihr UX-Design auf die Nutzungsabsicht ihrer Nutzer:innen abstimmt und ihren anhaltenden Erfolg erzielt. Schnapp dir dein Popcorn und lehn dich zurück.

A split-screen comparison of YouTube and Netflix user interfaces.

Kurz und knapp

  • Die User Experience von YouTube wird durch die Absicht „Explore“ angetrieben, anstatt nur Videos anzusehen, wie bei Netflix. Dies ermutigt die Nutzer:innen, kontinuierlich neuen Content zu finden.
  • YouTube findet eine Balance zwischen dem Anschauen von Videos und dem Entdecken neuer Inhalte, indem alternative Inhalte durch Empfehlungen, Thumbnails und Autoplay hervorgehoben werden, um mehr Exploration zu fördern.
  • YouTube nutzt Werkzeuge wie Infinity Scroling, einen Miniplayer und einen Empfehlungsalgorithmus, um die Nutzer:innen interessiert und auf Entdeckungsreise zu halten.

Die Art und Weise, wie YouTube und Netflix Videos zeigen, könnte unterschiedlicher kaum sein. Während sich bei Netflix der ablaufende Film über den gesamten Screen erstreckt und das gesamte User Interface verschwindet, zeigt YouTube das Video in einem verhältnismäßig kleinen Ausschnitt auf dem Bildschirm. Drumherum ist eine Menge los.

Warum spielen die Streaming-Plattformen das gewünschte Video so unterschiedlich ab? Nutzer:innen möchten doch scheinbar genau dasselbe: Das Video anschauen!

In diesem Artikel werden wir einen wichtigen Grundpfeiler der digitalen Produktgestaltung untersuchen: Die drei grundlegenden Absichten der Nutzung. Das Erkennen, Verstehen und Anwenden dieser Differenzierung prägt die Ausrichtung, Gestaltung, Funktionen und das Layout aller digitalen Produkte. Es ist ein Werkzeug, das jede UX-Designerin und jeder UX-Designer in der Tasche haben sollte.

Und es erklärt, warum YouTube und Netflix Videos so unterschiedlich abspielen.

Keines der beiden Interfaces ist schlecht. Die Milliardenumsätze beider Unternehmen lassen daran wenig Zweifel. Die Ähnlichkeit ihrer Ziele endet jedoch, wenn man genauer hinsieht.

Wir unterscheiden zwischen drei grundlegenden Nutzungsabsichten: Act, Understand und Explore. Aus dieser Unterscheidung lassen sich Regeln und Anforderungen ableiten, die den Erfolg einer Interaktion klar definieren. Jede dieser Nutzungsabsichten liefert klare Richtlinien für die Strukturierung der Seite, sowie die Entwicklung effektiver Inhalte. Hier werden wir analysieren, wie YouTube sich insbesondere einer Nutzungsabsicht verschrieben hat: »Explore«.

Warum Unternehmen den eigentlichen Zweck ihres Produkts verstehen müssen

Werfen wir einen Blick auf die konzeptionellen Unterschiede zwischen YouTube und Netflix. 

Beide Plattformen werden zum »Videos anschauen« besucht. Aber: Die Geschäftsmodelle beider Anbieter sind unterschiedlich, ebenso wie ihr Angebot und damit auch die spezifische Nutzungsabsicht ihrer Kund:innen. Auch wenn sich beide Plattformen das Medium Video teilen, so ist die Intention Ihrer Nutzer:innen doch eine andere.

Beide Plattformen gestalten den Moment, indem ihre Nutzer:innen mit einem Video interagieren, unterschiedlich. Und dennoch funktionieren beide auf ihre Weise herausragend. Das liegt mit unter an drei Faktoren welche nicht unterschiedlicher sein könnten: 

  • Dem Job, welchen das Video für seine Zuschauer:innen erledigt. 
  • Der Nutzungsabsicht, welcher der Interaktion zu Grunde liegt.
  • Dem Geschäftsmodell, mit dem das Unternehmen die Inhalte monetarisiert.

Really, we compete with everything you do to relax. We compete with video gaming. We compete with drinking a bottle of wine. That's a particularly tough one!

Reed Hastings
CEO Netflix

Bei Netflix geht es darum, sich zu entspannen, sich auszuruhen und abzuschalten.

Nach Auswahl des Videos ist die Exploration abgeschlossen. Kund:innen sollen die Fernbedienung zur Seite legen. Damit gehen sie ab diesem Moment fokussiert ihrem Ziel nach (und bewegen sich in der Nutzungsabsicht »Act«). 

Für das Ziel der entspannten »Quality Time« zahlen aktuell rund 231 Millionen Nutzer:innen ihren Monatsbeitrag an Netflix.

Youtube hingegen wird von seinen Nutzer:innen von Anfang an mit anderen Absichten aufgesucht: »Produkte erleben«, »Musik entdecken«, »Idolen nahe sein« oder »Wissen bereichern«. Und all das in Gemeinschaft, denn es ist auch ein soziales Netzwerk. Es geht nicht darum, sich passiv zurückzulehnen, sondern darum Neues zu entdecken.

Die Youtube Nutzer:innen sollen sich treiben lassen und immer wieder neue Inhalte entdecken. Damit bewegen sie sich in der Nutzungsabsicht »Explore«.

Was für Nutzer:innen das Entdecken neuer Inhalte ist, sind für Youtube gesteigerte Werbeeinnahmen. Nutzungsziel und Unternehmensziel bildet auch hier eine funktionierende Symbiose. 

Im Folgenden werden wir uns »Explore« genauer ansehen und zeigen, wie sich mit dem klaren Blick auf die Nutzungsabsichten die gesamte UX einer Seite entschlüsselt.

Dieser Blickwinkel lässt sich einerseits zur Analyse von Interaktionen heranziehen. Gleichzeitig – und für uns noch wichtiger – funktioniert es hervorragend für die Kreation von Neuem.

Optimiere die Struktur der Inhalte entsprechend der Nutzungsabsicht

Während Netflix darauf optimiert ist, ausgewähltem Premium-Content volle Aufmerksamkeit zu schenken, lädt Youtube dazu ein, Inhalte ständig zu wechseln und Neues zu entdecken. Dir gefällt ein Video nicht? Kein Problem. Youtube ist voller Ideen und Features, mit denen du sofort weiter gehen kannst. 

Für effektive Explore-Seiten gilt eine einfache Regel: Informationen und Funktionen, die Nutzer:innen ermutigen mit alternativen Inhalten zu interagieren, werden stark betont. Diese Art von Inhalt muss für Explore-Seiten entdeckt, entwickelt und sehr präsent integriert werden. Die primäre Aufgabe »Video anschauen« muss dabei natürlich weiterhin respektiert werden. Aber es wird nicht, wie bei Netflix, alles dieser Aufgabe untergeordnet.

Youtube schafft ein Gleichgewicht zwischen den »Jumps« zum nächsten Video und dem eigentlichen Content der Seite. Eine Balance, die die Aufgabe gerade noch genug respektiert und dennoch möglichst viel Raum für die nächste schafft.

Wenn wir Aufbau, Gestaltung und Funktionen genauer betrachten, können wir sehen, wie stark Youtube diesen Aspekt – den Sprung zum nächsten Video – fördert und wie immens die Nutzungsabsicht »Explore« die Struktur bis ins Detail prägt.

Screenshot of YouTube's desktop interface displaying a video about a space tether concept, with related content and user engagement features visible on the side.

Wie das Layout das Nutzungsverhalten beeinflusst

Mobile view of a YouTube video titled '1,000km Cable to the Stars - The Skyhook' with a thumbnail of another video titled 'The Most Extreme Explosion in the Universe' by Kurzgesagt underneath.

Das Video und alles, was damit zusammenhängt, steht nicht im Mittelpunkt des Layouts. 

Die Liste mit Videovorschlägen ist selbst auf kleinen Bildschirmen immer sichtbar. Sie befindet sich in der rechten Spalte der Desktop-Ansicht auf gleicher Höhe wie das eigentliche Video. 

In der mobilen Ansicht sind sowohl die Kommentare als auch die Videobeschreibung eingeklappt. Youtube stellt so sicher, dass die potenziell nächsten Videos auch auf kleinen Screens »above the fold« sichtbar sind. Beschreibung und insbesondere Kommentare sind für die Videoplattform wichtige Elemente. Dennoch müssen auf kleinen Screens Kompromisse gemacht werden und der Fokus auf Explore ist so stark, dass diese dann zugunsten der Videovorschläge ausfallen. 

Müssen wir nicht die Aufgabe der Nutzenden in den Mittelpunkt stellen und das Video in den Vordergrund rücken? Sowohl ja als auch nein. YouTube stellt den Wunsch des Nutzenden in den Mittelpunkt, aber in diesem Fall ist es »Interessantes entdecken« und nicht »Entspannen«.

Auf Youtube ist der Vollbildmodus nur eine Option. Wo es der Platz zulässt, gibt es zudem den »Kinomodus«: eine größere Videoansicht, die dennoch die Exploration zulässt.

Die Größe und Position des Videoplayers in der Desktop-Ansicht, haben sich in all den Jahren kaum verändert. Der Fokus auf den Push zum nächsten Video war von Anfang an gesetzt, wenn auch vorerst mit einfachsten Mitteln.

Das Layout ist bei weitem nicht der einzige Aspekt, der die Nutzungsabsicht adressiert. Es bestimmt den gesamten Charakter der Plattform und damit auch die formale Gestaltung.

Wie die visuellen Elemente im User Interface eine Community-Kultur schaffen

Die Videobeschreibung und die Kommentarspalte mit all ihren Funktionen sind in Grau gehalten, ebenso wie die Interaktionselemente, die das Video selbst steuern.

Die Videoempfehlungen heben sich dagegen dramatisch ab. Die Creator:innen nutzen alle Regeln der Kunst, um mit frei gestaltbaren Video-Thumbnails und Titeln um Aufmerksamkeit zu buhlen. Denn um herauszustechen, müssen sie sich von den unendlichen Alternativen abheben. Klicks bedeuten mehr Einnahmen für die Plattform, aber auch mehr Einnahmen für die Creator:innen. Es ist keine Überraschung, dass Tutorials zur Erstellung der besten Thumbnails Millionen Views haben: kleine Collagen mit starken Emotionen und großen Texten auf dem Bild ergänzen den Titel so gut, dass sie ihre eigene Ästhetik entwickelt haben. In dieser Ästhetik gibt es Trends und Dauerbrenner, die sich verändern und immer effektiver werden.

A detailed view of YouTube's video ui elements for interactions like liking, disliking, sharing, downloading, expressing gratitude, and more, displayed in a clean black and white design.
An array of YouTube video thumbnails covering topics from Keith Haring's art to science explanations and adventurous challenges, capturing a spectrum of content.

Aber nicht nur die Creator:innen, sondern auch die Plattform selbst pusht die Video-Vorschläge mit visuellen Markern wie beispielsweise dem roten »Live-Badge«.

Der Fokus auf die Exploration mittels der beschriebenen gestalterischen Mittel hat sich in der Entwicklung von Youtube relativ schnell herauskristallisiert.

Fünf funktionale Feature, die Nutzer:innen auf der Plattform halten

Was im Laufe der Jahre jedoch immens verstärkt wurde ist die funktionale Vertiefung von Explore. Also Funktionen, die auf verschiedene Art und Weise das Entdecken vereinfachen, teilweise sogar pushen. Hier sind einige Beispiele:

A user interface displaying YouTube video thumbnails with engaging titles, one about magnets catching a cannonball and another about traveling to extreme places in the universe, amidst a scrolling  interface with skeleton loading elements.

Infinite Scrolling & Pull to Refresh

Kein Feed ist wie der andere. Mithilfe von Infinite Scrolling, dem blitzschnellen Nachladen von weiteren Videovorschlägen und Pull to Refresh, dem Aktualisieren des Feeds, sorgt YouTube dafür, dass du konstant mit neuen Inhalten versorgt wirst.

A mobile screen displaying the YouTube mini-player featuring a Kurzgesagt video, with navigation icons for Home, Shorts, Subscriptions, and Library.

Mini Player

Man kann sogar die Videoseite für weiteres Entdecken verlassen. Das laufende Video wird währenddessen in einem Mini-Player fortgesetzt. Playlisten können gefüllt werden, sodass Nutzer:innen nicht zwischen neuen Entdeckungen und dem laufenden Video entscheiden müssen. 

A YouTube recommendation collage with video thumbnails about the universe, galaxies, and physics, under tabs like 'All', 'Universe', 'Galaxy', 'Physics', and 'Maths'.

Algorithmus

Ein zunehmend intelligenter Algorithmus, der sich von einfacher Logik zu künstlicher Intelligenz entwickelt hat, ist YouTubes stärkstes Explore-Feature. Die KI ist dahingehend optimiert, Videos herauszusuchen, welche Nutzer:innen höchst wahrscheinlich zum Anklicken bewegen. Dazu wird das eigene Verhalten und das aller Nutzer:innen aufwendig analysiert. Immer mehr Faktoren wurden über die Jahre mit berücksichtigt und differenziert.

Der Algorithmus ist mittlerweile laut Produktchef Neal Mohan für über 70 Prozent der auf Youtube verbrachten Zeit verantwortlich. 

YouTube mobile app displaying a 'Shorts' video by Kurzgesagt explaining how lasers work, with the mini-player showing another video beneath.

Shorts

Auch die »Shorts« (zeitlich begrenzte vertikale Kurzvideos) passen perfekt in den Explore-Flow. Während dein Video im Mini-Player läuft, kannst du es mit Shorts unterbrechen. In der Zwischenzeit wird dein Video pausiert und automatisch fortgesetzt, sobald dein Ausflug in die Welt der Shorts vorbei ist.

A YouTube mobile app interface showing an 'Up next' video about supervolcanoes by Kurzgesagt with an autoplay countdown and options to cancel or play now.

Autoplay

Das Autoplay-Feature ist jedoch besonders repräsentativ für die Betonung der Nutzungsabsicht »Explore«. Ende 2014 wurde das Feature erstmals getestet. Im März 2015 wurde es nicht nur fest integriert, sondern auch als Standardeinstellung für alle Nutzer:innen (über 18) festgelegt. Der Algorithmus sorgt dafür, dass möglichst relevante Videos abgespielt werden, ohne dass Nutzer:innen eine Auswahl treffen müssen. Weiterschauen als Default – gewissermaßen »Auto-Explore«.

Die Absicht Explore bestimmt YouTubes Interaction Design

Youtube zeigt Videos nicht auf dieselbe Art und Weise wie Netflix, weil es sich vollkommen der Exploration verschrieben hat. Und genau das ist, was seine Nutzer:innen dort tun wollen. 

Die Perspektive der Nutzungsabsicht erklärt den Aufbau, die Gestaltung und die Entwicklung der Produktfeatures der hoch optimierten Videoseite von YouTube.

Für uns ist das Verständnis der Nutzungsabsicht als Schnittmenge der Ziele von Nutzer:innen und Unternehmen mehr als ein Analysetool. Es ist eine hervorragende Grundlage für die Gestaltung digitaler Produkte. Für diese Nutzungsabsicht können neue Features entwickelt und bewertet werden. Die Identifizierung der richtigen Nutzungsabsicht ist einfach und bietet einen Raum, der klein genug ist, dass Ideen ihn leicht füllen können. 

Es ist keine abstrakte Theorie. Für uns hat sich durch die Brille der Nutzungsabsicht der Blick auf Interaktionsdesign verändert – er ist klarer geworden. Und diese Klarheit wiederum hat verändert, wie wir neue Lösungen gestalten – sie lässt uns schneller besserer Ergebnisse erzielen.

Graphic cover for a UI design guidebook titled 'UI Design for Humans,' featuring bold typography, geometric shapes in red, and a subtitle in German about interaction archetypes.
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